Die Bschneidung

Auch Papa bemühte sich, uns Kinder in der jüdischen Tradition zu erziehen. Er nahm mich nicht nur mit in die Synagoge und sprach mit mir über jüdische Bräuche und Gebote, sondern erklärte mir auch die hebräischen Schriftzeichen, lehrte mich das Chanukkalied (: »Weihe«. Das Fest, Anfang Dezember, zur Erinnerung an die Reinigung des jerusalemischen Tempels vom hellenistischen Götterkult (165 v. Chr.), heute in erster Linie ein Fest der Kinder, bei dem diese kleine Geschenke bekommen.) und ging eines Tages mit mir auf den jüdischen Friedhof. Das war für mich wichtig, weil ich keine Verwandten in Deutschland hatte und darum auch nie einen Trauerfall in der Familie. Also wußte ich auch nicht, wie die Juden um ihre Toten trauern und wie sie ihrer gedenken. Ich habe nie in meinem Leben Großvater oder Großmutter, Onkel oder Tante, Cousin oder Cousine gekannt; sie alle waren in Rußland geblieben oder in andere Länder ausgewandert. Das mag ein wesentliches Hemmnis in meiner und meiner Geschwister Entwicklung gewesen sein, denn erst die traditionelle jüdische Großfamilie mit ihrem lauten Durcheinander vom Morgen bis zum Abend, der ewigen Aufregung vor Schabbat, der übertriebenen Fürsorge um die Kinder und der Ehrfurcht vor den Alten gibt dem einzelnen Sicherheit und Selbstbewußtsein.

Die einzige Verwandte, die ich je kennengelernt habe, war eine Nichte von Mama, Taja Baumstein, eine außergewöhnlich schöne und temperamentvolle Frau, nach der sich die Männer auf der Straße umdrehten. Sie hatte in den zwanziger Jahren im Hoch'schen Konservatorium in Frankfurt mehrere Semester Musik studiert und in dieser Zeit bei uns gewohnt. Danach hatte sie geheiratet und war mit ihrem Mann nach Toulouse gezogen. 1937 sah ich sie dort wieder, als ich mit ihrer Hilfe ein Einreisevisum nach Frankreich bekam - und dann Anfang 1946 in Höchenschwand im Schwarzwald, im französisch besetzten Teil Deutschlands, wo sie eine Kur machte. In der Zwischenzeit hatte sich Entsetzliches ereignet. Ihr Mann war im KZ Buchenwald durch Ertränken ermordet worden, wie ihr später Mitgefangene berichteten, und sie selbst war drei Jahre im KZ Ravensbrück inhaftiert, wo SS-Ärzte an ihren Beinen medizinische Experimente vorgenommen hatten. Taja konnte sich nur mühsam an einem Stock bewegen, und als sie die Hosen hochnahm, sah ich zwei völlig vernarbte, noch immer an mehreren Stellen eiternde Beine, aus denen ganze Wadenpartien herausgeschnitten waren. Einige Monate später nahm sie sich das Leben.

Ich vergesse nie, wie Papa mit mir durch die Gräberreihen des alten jüdischen Friedhofs in der Rat-Beil-Straße ging, mir die verschiedenen Symbole auf den Grabsteinen zeigte und erklärte, warum auf vielen Gräbern kleine Steinchen lagen. Dann setzten wir uns auf einen Mauervorsprung, und Papa erzählte mir, wie die jüdische Überlieferung verlange - ganz im Gegensatz zu den christlichen Religionen -, daß die Beerdigung in einem einfachen Holzsarg so schnell und schlicht wie möglich vonstatten zu gehen habe und die Hinterbliebenen sieben Tage »Schiwe sitzen« müßten, daß heißt, zum Zeichen der Trauer, zu Hause auf niedrigen Schemeln ohne Schuhe sitzend, die Beileidsbesuche empfangen. Dann aber müßten sich die Trauernden, so fuhr er fort, wieder dem Diesseits, dem Leben zuwenden, obwohl sich der Schiwe noch dreißig Trauertage anschlossen; nur beim Tod von Vater und Mutter währe die Trauerzeit ein ganzes Jahr. Die jüdische Religion fordere, den Toten ihre Ruhe zu lassen, damit die Wunden vernarbten, die der Tod geschlagen habe. Das sei auch der Grund, weshalb die Juden so selten auf den Friedhof gingen, obwohl auch sie an ein Weiterleben nach dem Tode glaubten, an eine zukünftige Welt, in der die Gerechten ihren reichen Lohn und die Sünder ihre verdiente Strafe erhielten. Ob Papa an ein Leben nach dem Tod glaubte, weiß ich nicht, aber nach all dem, was er mir erzählte, könnte es durchaus so gewesen sein, ein solches Verhalten würde zu ihm gepaßt haben.

 

Als mein Bruder Alex geboren wurde, gab es acht Tage später ein großes Fest bei uns. Papa blieb von der Arbeit zu Hause, räumte in aller Frühe schon die Wohnung auf und machte alles blitzblank. Obwohl Mama aus dem Wochenbett aufgestanden war und wieder wie eh und je im Haushalt herumhantierte, übernahm Papa an diesem Morgen die ganze Arbeit allein. Mama mußte auf dem Sofa sitzenbleiben und durfte sich bestenfalls um das Neugeborene kümmern, ihm die Brust geben, es sauber machen. Dem Kind wurde das schönste Wolljäckchen angezogen. Auch meine Schwester Paula und ich mußten unsere besten Sachen anziehen, die Schuhe putzen, die Hände waschen, und Papa und Mama machten sich ebenfalls schön.

Dann war der feierliche Augenblick da: der Mohel, der Beschneider, kam. Er kam pünktlich und gemessenen Schrittes, sich seiner Wichtigkeit bewußt, angetan mit einem schwarzen Kaftan, auf dem Kopf einen steifen schwarzen Hut. Er brachte einen jungen Assistenten mit, der eine kleine abgegriffene Ledertasche trug; sie enthielt die zur Briss Mile, der Beschneidung, notwendigen Utensilien. Im hinteren großen Zimmer, dem Elternschlafzimmer, legte Mama den kleinen Alex, der schon jetzt so jämmerlich schrie, als ahnte er, was ihm bevorstand, auf das dem Fenster nächststehende Bett, damit der Mohel für seine rituelle Handlung das günstigste Licht habe. Sie legte dem Kind noch eine gesteppte Seidendecke unter und zog ihm dann das Strampelhöschen aus. Der bedachtsame und praktische Mohel schob erst mal ein kleines Leinentuch zwischen Kinderpopo und Seidendecke und sprach dann ein Gebet. Damit sie den Mohel nicht störten, mußten die Zuschauer der Beschneidung - einige Freunde der Familie, meine Schwester, und ich mit Baskenmütze - auf der andern Seite der Ehebetten stehen. Nur Mama und Papa blieben in der Nähe. Papa hatte seinen schwarzen Filzhut aufgesetzt. Der Assistent reichte die Instrumente, und der Mohel - er behielt sein Jackett an, schlug aber die Ärmel um - begann seine Arbeit.

Der arme Alex schrie mörderisch, als ihm das kleine Stückchen Vorhaut weggeschnitten wurde. Ich war noch sehr klein und konnte deshalb von der Operation selbst nicht viel sehen. Es ging alles sehr schnell, Alex bekam zum Schluß einen Verband drum, dann sprach der Mohel noch ein längeres Gebet. Anschließend segneten Mama und Papa den kleinen Alex, indem sie ihm die Hand auf den Kopf legten.

Das Ganze war sehr aufregend für mich, und obwohl über fünfzig Jahre vergangen sind, erinnere ich mich noch sehr genau an viele Einzelheiten, so an das von einer Akne oder von Windpocken vernarbte Gesicht des Assistenten, an das schwarze Etui mit dem Skalpell, an eine blecherne Puderdose, die wie eine Pagode geformt war und die der Mohel auf der Marmorplatte der Frisierkommode abgestellt hatte, und daran, wie Mama dem Beschneider aus der blaugeblümten Steingutkanne zur Reinigung Wasser über die Hände goß.

Mama steckte Alex zur Beruhigung einen in Honig getauchten Schnuller in den Mund, der Beschneider trank mit Papa noch ein Glas Wein auf die Briss Mile - der Assistent trank nicht -, dann gingen sie ins Nebenzimmer und regelten das Geschäftliche, und bald verschwand der Mohel mit seinem Assistenten.

Nachher kam Mama zu mir und sagte: »Hast du gesehen, Walja? Genau so war es auch bei dir.« Ich verspürte dabei ein komisches, unangenehmes Kribbeln im Bauch.

Dann wurde die Beschneidung gefeiert mit vielen Schüsseln Gekochtem, einem großen Borschtsch, Fleisch und Fisch in Mengen und etlichen süßen Nachspeisen, alles war schon am Tag zuvor hergerichtet worden, mit Bergen von Kuchen und vielen Flaschen Wein. Der Samowar summte den ganzen Nachmittag und auch am Abend. Papa trank nicht viel Wein, aber an so einem Abend zehn bis fünfzehn Tassen Tee. Immer kamen noch neue Gäste, jeder mit einem kleinen Geschenk für Alex. So fröhlich und ausgelassen habe ich Mama und Papa selten gesehen. Papa bediente die Gäste, eine junge Frau half ihm dabei. Mama saß auf dem Diwan, trank koscheren Wein und politisierte mit den Gästen, denn es waren fast alles politische Freunde, die gekommen waren, die Briss Mile mitzufeiern. Zwischendurch erzählte Papa seine Geschichten.

Als Paula und ich am späten Abend ins Bett mußten, war das Fest gerade auf seinem Höhepunkt angelangt. Man lachte, sang russische und jüdische Lieder und fand kein Ende, und wir beide konnten vor lauter Lärm lange nicht einschlafen.

 

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